Wärst du doch in Düsseldorf geblieben…

18.06.2013

Seit Kurzem halte ich mich hin und wieder am Wochenende in Tübingen auf. Die Anbindung nach Düsseldorf ist grundsätzlich ok, es gibt mehrmals am Tag eine Verbindung, bei der man nur ein Mal in Stuttgart umsteigen muss und ab dort bequem durchfährt. Der IRE in Tübingen (ich nenne ihn liebevoll den Ingen-Express) startet an diesem Sonntag mit 2 Minuten Verspätung, die er aber dank Warp 9 schnell wieder aufholt. Das ist nicht unwichtig, weil man im Kopfbahnhof Stuttgart nur 8 Minuten Umstiegszeit hat. Außerdem fühlt es sich manchmal ein bisschen an wie Achterbahn.

Noch im Ingen-Express sehe ich in der Bahn-App, dass sich die Abfahrt meines Anschluss-ICE in Stuttgart um ca. 5 Minuten verzögern wird. Das finde ich gut, dann ist das Umsteigen nicht ganz so hektisch. Der ICE fährt wie erwähnt von Stuttgart durch bis Düsseldorf, er besteht aus zwei Zugteilen, einer mit 20er Nummern, einer mit 30er Nummern. Ich habe mir vorsorglich eine Sitzgelegenheit für 4 Euro reserviert, und zwar Platz 11 in Wagen 32. Das präge ich mir im Ingen-Express durch mantrisches Aufsagen ein.

In Stuttgart auf dem Abfahrtgleis angekommen lese ich zunächst im Ticker auf der Anzeigetafel, dass der Zug an diesem Nachmittag nur mit einem Zugteil fährt. Ich muss nicht erwähnen, dass der Zugteil mit den 30er Nummern entfällt. Ebenfalls selbstverständlich ist, dass dieser ICE, der am Sonntagnachmittag von München nach Hamburg fährt, immer bis zum Bersten gefüllt ist, auch mit zwei Zugteilen. Nicht so schlimm. Mein Schnitt ist bisher ganz gut, das ist eigentlich das erste Mal, dass ich auf dieser Strecke Probleme erfahre, das passiert eben. (Auf anderen Strecken hab ich schon ganz andere Sachen erlebt, aber dazu vielleicht ein anderes Mal mehr.)

Irgendwann fährt der Zug endlich am übervölkerten Gleis ein. 5 Minuten Verspätung waren sehr wohlwollend formuliert, aber da ich ja nicht nochmal umsteigen muss, nehme ich auch das gelassen hin. Ich steige also in diesen Zug ein, zusammen mit gefühlt 2.000 anderen Menschen. Im Zug selbst sind bereits 3.000. Es wird in regelmäßigen Abständen angesagt, dass der Zug sehr voll ist und Reisende mit Ziel Mannheim, Frankfurt/Main Hauptbahnhof und Frankfurt/Main Fernbahnhof bitte auf den ICE am Gleis gegenüber ausweichen sollen.

Im Zug selber wächst meine Misanthropie schnell zu einem ausgewachsenen Leviathan heran. Offensichtlich Schwangeren werden von offensichtlich nicht Schwangeren Sitzgelegenheiten verweigert: “Da sitzt mein Freund!” (Später dann zum Freund: “So hochschwanger sah die gar nicht aus.”), Schnapsleichen vom Vorabend beschweren sich lautstark und mit beifallheischendem Blick in die Runde: “Hauptsache, Frauen und Kinder sitzen!”. Ich wünsche mir insgeheim, dass die Ausbildung eines grundlegenden logistischen Verständnisses in Grundschullehrpläne aufgenommen wird.

Mein Stresspegel steigt inzwischen merklich. Um niemanden spontan zu töten, habe ich mich im Großraumwagen hinter den letzten Sitz vorm Abteilbereich auf den Boden gekauert, damit ich möglichst keinen direkten Blickkontakt herstellen kann. Es vergehen etliche Minuten in Zeitlupe, in denen Menschen permanent hin- und herdrängeln, weil sie in ihren Spatzenhirnen denken, dass irgendwo in diesem Zug noch ein regulärer Sitzplatz frei ist.

Die Kreischstimme der bayerischen Zugchefin brüllt fortwährend durch die knisternden Lautsprecher, dass Reisende mit Ziel Mannheim, Frankfurt/Main Hauptbahnhof und Frankfurt/Main Fernbahnhof bitte auf den ICE am Gleis gegenüber ausweichen sollen. Tatsächlich haben das auch nach dem vermutlich zehnten Mal immer noch nicht alle begriffen. Erst als die Kreischstimme damit lockt, dass der Ausweichzug vor unserem abfährt, steigen Menschen aus und rennen panisch zum “[opposait treck]“.

Zwischenzeitlich wankt erneut die Schnapsleiche durchs Bild. Ein anderer Fahrgast gibt ihm den Hinweis, dass er auch ruhigen Gewissens stehen bleiben kann, da auch vom ständigen Umherirren im Zug aller Voraussicht nach kein Platz frei wird. Schnapsleiche moppert wiederholt “Hauptsache, Frauen und Kinder sitzen”, und lässt sich direkt neben mir nieder. Ich stehe auf. Mit dem will ich nicht auf einer Atemebene sein. Neben Schnaps vermute ich nach einem kurzen Blick in sein Gesicht auch noch Synthetik in seiner Blutbahn. Überraschenderweise ist sein Reiseziel Köln.

Insgesamt vergeht ca. eine halbe Stunde, dann die vielleicht sogar für Schnapsleiche ernüchternde Erkenntnis, abermals mitgeteilt durch die bayerische Kreischstimme: Der Zug kann wegen Überbesetzung nicht abfahren. Reisende nach z.B. Düsseldorf möchten bitte aussteigen und sich nach Gleis 6 begeben, dort kommt gegen 18:26 ein ICE, der bis Münster durchfährt. So verstehe ich zumindest, während Schnapsleiche irgendwas Unverständliches vor sich hin murmelt. Ich nutze die Gelegenheit um aus dem Tanzbereich des widerlichen Typens zu verschwinden und eile gen Gleis 6. Dort angekommen stellte ich fest, dass der prophezeite Rettungszug weder auf der Anzeige Erwähnung findet, noch in der Bahn-App. Schnapsleiche kommt wenige Augenblicke nach mir die Treppe zum Gleis hoch.

Am laufenden Band schallen quer durch die offene Bahnhofshalle Verspätungsdurchsagen. Nicht etwa, weil irgendwas bestimmtes passiert ist, sondern einfach nur so aus den diversen bekannten Gründen. Signalstörung. Personen am Gleis. Technische Störung. Et cetera. In einem schwachen Moment wende ich mich hilfesuchend an das auf den Bahnsteigen reichlich vorhandene Bahnpersonal und erhalte die hilfreiche Auskunft: “Keine Ahnung. Wir sehen auch nur, was auf den Anzeigetafeln steht.” Das muss ich mir merken, ich hab schließlich auch Kundenkontakt. Immerhin kann ich inzwischen auf der allmächtigen Anzeigetafel erkennen, dass das kein ICE sein wird, für den ich aus meinem eigentlichen Zug gejagt wurde, sondern ein IC. Und dass man noch nicht weiß, von welchem Gleis der abfahren wird. Planmäßige Abfahrt wäre 17:41 gewesen. Inzwischen ist es 18:30.

Ich habe für die Fahrt in einem ICE bezahlt, ich will ICE fahren. Ich setze mich nicht in einen alten, verdreckten IC, der länger braucht und billiger ist. Denke ich. Vielleicht ist das ein Fehler, ich bin mir bis jetzt noch nicht sicher.

Da die Angestellten der Bahn selbst offensichtlich auch nur auf diese Informationsquelle zurückgreifen, suche ich mir in der Bahn-App selbst eine neue Verbindung. Es fährt ein ICE um 18:51, er kommt pünktlich und am geplanten Gleis. Ich soll in Mannheim umsteigen, um von dort nach Frankfurt/Main Fernbahnhof zu kommen, wo ich dann in einen ICE nach Hause steigen kann. Kurz ziehe ich in Erwägung, einfach auf den ICE um 19:51 zu warten, also 2 Stunden später als ursprünglich geplant, und die Zeit bis dahin mit Abendessen zu überbrücken, der fährt dann schließlich durch. Aus Gründen, die mir nicht näher bekannt sind, entscheide mich aber dann doch dagegen.

Der ICE nach Mannheim ist angenehm leer und gut klimatisiert. Ich erfrage bei der Zugbegleiterin, die die Fahrkarten kontrolliert, die nächsten Schritte, um meine verfallene Reservierung aus dem ersten ICE und die um 60 Minuten verspätete Heimkehr monetär geltend zu machen. Geht alles online. Toll. (Inzwischen weiß ich: “Online” heißt an dieser Stelle, dass ich mir das Fahrgastrechte-Formular als PDF aus dem Internet herunterladen und am Computer ausfüllen kann. Danach geht es dann wieder offline weiter. Doch nicht so toll.)

Mannheim kommt, ich steige aus. Der Ziel-ICE nach Frankfurt/Main Fernbahnhof soll am Gleis gegenüber fahren. Noch während ich die Stufen aus dem Zug herabsteige, höre ich die Durchsage: Mein Anschlusszug hat ca. 50 Minuten Verspätung. Wegen eines Notarzteinsatzes am Gleis. Ich kichere hysterisch.

Ein erneuter Blick in die App verrät mir, dass ich mit dem ICE, den ich gerade verlassen habe, nach Frankfurt/Main Hauptbahnhof fahren muss, dort fährt 2 Minuten nach Ankunft ein ICE nach Düsseldorf. Verspätung hat er bis dahin keine, zwei Minuten sind allerdings denkbar knapp zum Umsteigen. Aber hey, was soll der Geiz. No risk, no fun. Living on the Edge. Jetzt kreischt Steven Tyler in meinem Kopf.

Zurück im gerade verlassenen Zug frage ich eine weitere Bahnangestellte bei der erneuten Fahrkartenkontrolle, ob denn Gleis 9 in Frankfurt/Main Hauptbahnhof gegenüber von unserem Zielgleis 8 am selben Bahnsteig ist. Weiß man ja nicht, ob alle Bahnhöfe gleich arrangiert sind. Sie ist gut gelaunt und freundlich, bestätigt meine Hoffnung und beteuert außerdem, dass sie sich darum kümmern wird, dass wir den Zug noch kriegen, es müssen ja sicher auch noch andere Reisende umsteigen. Erleichterung durchflutet mich. Ich komme also doch nur 1 Stunde später nach Hause, das geht ja.

Wir nähern uns Frankfurt/Main Hauptbahnhof, müssen aber kurz vorher noch “wegen Gleisbelegung” “wenige Minuten” warten. Als wir in den Kopfbahnhof einfahren, kommt uns der ICE nach Düsseldorf entgegen. Ich winke.

Mit der neuen Verbindung habe ich 30 Minuten Aufenthalt in Frankfurt/Main Hauptbahnhof bis mich ein weiterer ICE nach Frankfurt/Main Fernbahnhof bringt. Dort werde ich in den ICE steigen, der um 19:51 ab Stuttgart bis Düsseldorf durchfährt und – wie ich nun weiß und mir für die Zukunft merken werde – deutlich schwächer frequentiert ist als sein kleiner hässlicher Bruder um 17:51.

(Kurzes Zwischenspiel am Frankfurter Hauptbahnhof: In einem Fastfood-Restaurant an einem stark befahrenen Hauptbahnhof ist nicht davon auszugehen, dass es schnell geht.)

Der Zug fährt mehr oder weniger pünktlich ab und erreicht den nächsten Halt mit 4 Minuten Verspätung, was mich angesichts einer angesetzten Umstiegszeit von 14 Minuten nicht weiter stört. Der nächste und für mich an diesem Abend hoffentlich letzte ICE steht 10 Minuten länger am Bahnhof, weil man auf Anschlussreisende wartet. Die Klimaanlage ist ausgefallen, die Aufschrift “ICE” wird zu augenzwinkernder Selbstironie. Seit der Abfahrt in München wurde ordentlich Sonne getankt. Abgesehen davon ertönt in jedem der gefühlt 50 Tunnel auf der Strecke Frankfurt/Main Fernbahnhof nach Siegburg/Bonn ein merkwürdiges und lautes Sauggeräusch an der Abteildecke, als wäre irgendwas undicht. Vielleicht fliegt uns ja gleich bei 300 km/h noch das Dach weg.

Ich komme 2 Stunden und 10 Minuten später als geplant in Düsseldorf an. Das ist nicht schlimm, in Istanbul bekriegt sich parallel dazu inzwischen sogar die Bevölkerung untereinander, in Pakistan passieren Anschläge auf einen Bus mit Studentinnen und ein Krankenhaus und ich hatte ausser Wäsche waschen an diesem Abend sowieso nichts mehr vor. Trotzdem: In meinem nächsten Leben möchte ich Anschlussreisende werden, und zwar eine, auf die gewartet wird. Zum Beispiel am Frankfurter Hauptbahnhof. Dafür habe ich jetzt genug Karmapunkte gesammelt.

5 Kommentare:

  1. 18/06/2013eve says:

    Ich hatte mich mit der Schilderung meiner Odyssee in einer etwas offizielleren Version via Facebook auch direkt an die Bahn gewandt. http://on.fb.me/13PP3Td Natürlich weiß ich, dass das nichts bringt, aber es kann nicht schaden, den Herrschaften hin und wieder mal mitzuteilen, was da eigentlich jeden Tag so passiert.

  2. 18/06/2013jens says:

    YAY! Auf gehts!

  3. 18/06/2013fips says:

    wenn abläufe aus der bahn geraten, müssen die verantwortlichen hin und wieder aufs richtige gleis zurückgebracht werden. und zwar zugig.

  4. 18/06/2013Steven says:

    Whoop!
    Viel Erfolg!

  5. 4/07/2013lik™ says:

    HILARIOUS! (Kennen Sie Frau Nuf??) – nur an einer Stelle habe ich Sie ertappt. Schließlich ist es unrealistisch, dass Sie sich von einer Schnapsfahne verjagen lassen. D.A. ^_^

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